Wie ein Schatten liegen die beiden Kriege vor den Toren Europas auch über der weltweit wichtigsten Kunst-Großveranstaltung, selbst dann, wenn Biennale-Teilnehmerstaaten diese ignorieren: Bolivien etwa, mit Russland verbündet, durfte sich auf dessen geschlossenen Länderpavillon ausbreiten. Und während man bei der Eröffnung mit deplatziert launig daherkommender Anden-Folkloremusik aufwartete, skandierten in Hörweite bereits am ersten Preview-Tag propalästinensische Demonstrierende.
Flugblätter mit der Aufschrift "Kein Tod in Venedig. Nein zum Genozid-Pavillon" wurden geworfen, und die Schließung des Israel-Pavillons wurde gefordert. Diese war allerdings ohnehin bereits freiwillig von dessen Protagonisten selbst vollzogen worden. Nur durch die Glasscheibe bleibt der unpolitische Beitrag Motherland der Künstlerin Ruth Patir erahnbar. Ein Plakat erklärt, dass man erst öffnen werde, wenn ein Waffenstillstand und die Freilassung aller Geiseln erwirkt seien.
Polen wiederum ersetzte nach dem politischen Umschwung im Land seinen völkisch angehauchten Beitrag durch Ukraine-Solidaritätskunst (in Videos ahmen Ukrainerinnen und Ukrainer Kriegsgeräusche nach), die Ukraine selbst müht sich etwas befremdlich, Tarnnetz-Flechterei als Kunsthandwerk zu verkaufen, oder hat Schauspieler aus der EU und Großbritannien stereotype ukrainische Flüchtlinge darstellen lassen.
Waldritual zu Technomusik
Vor dem deutschen Pavillon wand sich zum Start eine Menschenschlange wie vor dem Berliner Technoclub Berghain. Der Eingang wurde mit Erde zugeschüttet, Einlass gibt's durch ein Nadelöhr auf der Seite, auch innen erwartet einen die finstere Anmutung eines Clubs. Der Theater-Jungstar Ersan Mondtag und die israelische Künstlerin Yael Bartana drückten dem Nazi-Bau ihre bekannte Formensprache auf, was heißt: Dröhnende elektronische Klangkulisse, ein Raumschiff hängt turbinenartig in der Luft, in einem Video verschmelzen archaische Kulthandlungen im deutschen Wald und Szenen wie aus Leni Riefenstahls Olympiafilm mit Weltraummotiven. Mondtag ließ in den Pavillon eine begehbare Architektur einbauen, in der er die Geschichte seines türkischen Vaters erzählt, der sich als Gastarbeiter bei der Schufterei in einer Eternitfabrik mit Asbest vergiftete.
Deutsche Schwere und Strenge also auch bei dieser Biennale. Dabei hätte gerade dieses Duo die Chance ergreifen und mit den völkischen Versatzstücken brechen können. Ein Hauch mehr Leichtigkeit würde im deutschen Pavillon subversiver wirken als das Wiederkäuen faschistischer Formen zu einer technoiden Alien-Nazi-Dystopie, die letztlich eingeübte Erwartungen an den deutschen Beitrag nur erfüllt statt bricht.
Das krasse Gegenteil findet gegenüber im französischen Pavillon statt, wo mit Juliet Creuzet erstmalig ein Künstler des Übersee-Départements Martinique ungeachtet postkolonialer Misstöne eine traumwandlerische Unterwasserlandschaft erschafft: In Neonfarben leuchtende Fischernetze und Meeresmüll verschmelzen mit Korallenstrukturen und Ästen, Videos transportieren Poesie und Musik.
Der US-Pavillon zeigt mit Jeffrey Gibson ebenso knallbunten queeren First-Nations-Pop mit Porträtbüsten und Musikvideos. Für die Schweiz darf die brasilianischstämmige Kunstfigur Guerreiro Do Divino Amor klassische europäische Kulturinsignien des 19. Jahrhunderts (Säulen, Marmorbüsten) mit Mitteln des Technopop als queere Selbstüberhöhung umdeuten.
Postkoloniale Aufarbeitungen
In Summe aber ist im Vergleich zur letzten Biennale-Ausgabe das Eintreten für queere Identitäten zugunsten kolonialer Migrationsgeschichten zurückgegangen: Für die Niederlande thematisieren Angehörige ehemaliger kongolesischer Plantagenarbeiter die Ausbeutung durch den Konzern Unilever; Benin widmet sich im Arsenale dem Thema Raubkunst, stellt stolz aber auch den Feminismus der Volksgruppe Yoruba aus. Viele Länder zeigen indigene Kunstschaffende, die vor allem auf die Zerstörung ihres Lebensraums hinweisen, Australien geht mit seiner Aborigines-Politik hart ins Gericht.
Wertkonservativ und schön fürs Auge präsentiert sich zum Ausgleich wie so oft der venezianische Pavillon mit renaissanceartiger Globenkunst von Pietro Ruffo und an christlicher Ikonografie angelehnter Urban Art von Safet Zec, der vor Ort auch live malt. Griechenland lässt eine bedrohliche Landmaschine unter dem Titel Dryland Wasser ablassen. Im wahrsten Sinne aus der Reihe tanzt Belgien, wo ein sympathisch unverständliches, aber quietschvergnügtes Kollektiv aus dem Baskenland, Nordfrankreich und Belgien unter dem Einfluss wummernder Technobässe der vom Aussterben bedrohten Kulturtechnik des Printzeitungdruckens nachgeht.
Ein Hang zu musiktheatralischen Inszenierungen lässt sich übrigens als genereller Trend feststellen: Unter anderen im skandinavischen, ägyptischen und irischen Pavillon wird das Singspiel, teils live, teils aufgezeichnet, teils ironisiert, teils mit pathetischem Ernst hochgehalten. Da soll noch einer sagen, Oper wäre tot. (Stefan Weiss, 19.4.2024)