Es ist zwar ziemlich genau 90 Jahre her. Dennoch kann sich Lotte Bailyn an einige Begebenheiten ihrer frühen Kindheit in Wien noch gut erinnern. Kein Wunder: Die emeritierte Professorin am renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge ist mit ihren 93 Jahren überaus rüstig und hellwach. Nach einer mehr als einstündigen Führung durch den riesigen Wohnkomplex des Karl-Marx-Hofs dreht sie gutmütig noch ein paar Extrarunden für den STANDARD-Fotografen und posiert unter anderem vor einem Kindergarten.

Lotte Bailyn vor einem Kindergarten im Karl-Marx-Hof, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens wohnte. Die Vereinbarkeit von Karriere und Familie wurde zu ihrem wissenschaftlichen Hauptthema.
Heribert Corn

"Vermutlich bin ich als kleines Kind in diesen Kindergarten gegangen", sagt Bailyn, die als Lotte Franziska Lazarsfeld 1930 in Wien geboren wurde – in jenem Jahr, in dem der Karl-Marx-Hof eröffnet wurde. Ihr Vater war der Soziologe und promovierte Mathematiker Paul Lazarsfeld, ihre Mutter die Sozialpsychologin Marie Jahoda. Beide stammten aus jüdischen Familien. Mit ihren Eltern verbrachte sie ihre ersten Lebensjahre in einer Wohnung auf der Stiege 50.

Marie Jahoda war bei der Geburt ihrer Tochter 23 Jahre alt, zwei Jahre später promovierte sie und verfasste in der Wohnung das Manuskript zur weltbekannten Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. Co-Autoren war Paul Lazersfeld, von dem sie sich privat inzwischen getrennt hatte und der später in den USA zum Mitbegründer der modernen Sozialforschung werden sollte, sowie Hans Zeisel, wobei die Hauptschreibarbeit aber von Jahoda stammte.

Woran sich Lotte Bailyn auch erinnert: dass ihr die Mutter irgendwann 1934 beibrachte, dass sie die Internationale nicht mehr in der Öffentlichkeit singen durfte. Und dass ihr Mitschüler 1936 in der ersten Klasse der Montessori-Schule eines Tages Blumen mitbrachten, obwohl sie gar nicht Geburtstag hatte. ",Die sind deswegen, weil deine Mutter im Gefängnis ist‘, sagten sie mir, was mich erstaunte. Meine Großmutter und meine Tante, die sich um mich kümmerten, hatten mir nämlich erzählt, dass die Mutter bloß einige Zeit verreist sei. Mein Onkel tröstete mich: ,Deine Mutter hat nichts Falsches getan.‘"

Lange Trennung von der Mutter

Jahoda war wegen ihrer Untergrundtätigkeit für die Revolutionären Sozialisten von den Austrofaschisten festgenommen und neun Monate lang in der Rossauer Kaserne inhaftiert worden. Erst nach internationalen Protesten kam sie frei – unter der Bedingung, das Land umgehend zu verlassen und die Staatsbürgerschaft aufzugeben. Die gerade einmal siebenjährige Tochter fuhr mit dem Vater, der bereits zuvor in die USA emigriert war und den sie kaum kannte, von Cherbourg nach New York, während die Mutter nach England ging.

Foto aus dem Reisepass von Lotte Lazarsfeld für die Ausreise in die USA.
Lotte Bailyn

Das Essen auf dem Dampfer habe ihr nicht geschmeckt, erinnert sich Bailyn. Außerdem habe sie Angst gehabt, ihr Vater könnte sein Deutsch bei der Überfahrt vergessen. "Dann bin ich wirklich aufgeschmissen", fürchtete sie damals mit ihren sieben Jahren. (Ihrem eigenen Englisch wird auch nach 85 Jahren in den USA ein leicht österreichisch gefärbtes "r" bleiben.)

Ihr weiteres Leben verbringt Lotte Bailyn hauptsächlich in den USA; ein Wiedersehen mit der Mutter scheitert acht Jahre lang wegen des Kriegs. Trotz aller weltpolitischen und familiären Komplikationen zu Beginn wird dieses Leben erfüllt und erfolgreich verlaufen. Lotte wächst zunächst bei Herta Herzog auf, der zweiten Frau ihres Vaters, die mit Marie Jahoda in Wien Psychologie studiert hatte. Sie wurde später leitende Marktforscherin bei der Werbeagentur McCann Erickson und galt als "mächtigste Frau der Madison Avenue", der in der US-Fernsehserie Mad Men Reverenz erwiesen wurde (unter dem Namen Dr. Greta Guttman). Mit der Mutterrolle für die nicht ganz einfache Stieftochter sei sie allerdings etwas überfordert gewesen. "Poor woman", sagt Bailyn.

Ihre echte Mutter sieht Bailyn erst wieder, als sie bereits 15 Jahre alt ist. Dennoch haben die beiden fortan eine ausgesprochen gute Beziehung. Das lässt sich auch in den Memoiren von Marie Jahoda nachlesen, die ursprünglich für ihre Tochter und ihre Enkel bestimmt waren und dieser Tage unter dem Titel Rekonstruktionen meiner Leben neu herauskamen, versehen mit einem hellsichtigen Essay Lotte Bailyns über Frauenkarrieren in ihrer Familie über vier Generationen und Fotos aus dem Familienalbum.

Eines des Fotos aus dem Buch und dem Familienalbum: Mutter und Tochter im Jahr 1950 in New York.
Marie Jahoda Lotte Bailyn

Eine eher zufällige Uni-Karriere

Die Tochter studiert in den 1950er-Jahren Mathematik und Psychologie, um sich jeweils von Vater und Mutter abzugrenzen, wie sie später einmal ironisch bemerkte, heiratet den Historiker Bernard Bailyn und promoviert mit 26 Jahren in Sozialpsychologie. Während ihr Mann an der Universität Harvard bald Professor und einer der einflussreichsten US-Historiker seiner Generation werden sollte (ausgezeichnet mit gleich zwei Pulitzerpreisen), kümmert sich Lotte Bailyn um die beiden Söhne. Die werden es ebenfalls zu Professoren an US-Unis bringen.

Auch sie ist weiter im universitären Bereich tätig und arbeitet am MIT und in Harvard an Projekten mit. Diese Spannungsverhältnisse von Beruf und Familie, von Männer- und Frauenkarrieren sollten zu ihren wissenschaftlichen Lebensthemen werden: Sie forscht unter anderem über das Familienleben berufstätiger Paare und die Karrieren von Absolventen und Absolventinnen des MIT, ehe sie 1978 an dieser Hochschule erstmals festangestellt und 1980 erste Professorin an der Sloan School of Management des MIT wird.

"Meine eigene Uni-Karriere war ungeplant", sagt Bailyn: "Als man am MIT nach Personen mit entsprechenden Qualifikationen gesucht hat, war ich da – zwar an der Peripherie, aber doch sichtbar." Als Professorin für Management findet sie in ihren Studien unter anderem heraus, dass Unternehmen dann am effektivsten sind, wenn sowohl innerbetriebliche Ziele als auch die Bedürfnisse der Beschäftigten jenseits der Arbeit Beachtung finden. Bailyns Bücher darüber – wie Breaking the Mold. Redesigning Work for Productive and Satisfying Lives– sind Standardwerke geworden und erlebten Neuauflagen.

Gegen Altersdiskriminierung

In der Wissenschaft habe sich diesbezüglich zwar einiges zum Besseren zugunsten der Frauen gewandelt. Andererseits verlassen laut einer aktuellen Untersuchung nach wie vor 43 Prozent der Vollzeit angestellten Wissenschafterinnen bei ihrem ersten Kind den Bereich ganz oder nehmen eine Teilzeitstelle an. Bei den Männern beträgt dieser Anteil nur 23 Prozent. "Mit einem Kind geht es noch am leichtesten", sagt Bailyn, "und auch noch mit zwei Kindern machen viele Frauen Karriere. Aber mit mehr Kindern kommt das nur mehr sehr selten vor."

Bailyn, die auch über Ungleichbehandlung der Geschlechter am MIT forschte und an ihrer eigenen Uni und auch in Harvard erst spät – aber doch – Anerkennung für ihre wegweisenden Studien erhielt, plädiert deshalb dafür, dass Männer wie Frauen ihre Karrieren einfach langsamer angehen sollten, wenn sie kleine Kinder zu betreuen haben. "Aufgrund der Altersdiskriminierung ist das aber nur schwer möglich, denn es gibt das Vorurteil, dass man gute wissenschaftliche Arbeit nur in jungen Jahren macht. Aber das stimmt einfach nicht."

Ihr ganz grundsätzlicher Ratschlag: "Wir müssen unsere Lebensläufe neu denken und sollten eine Art Verspätung einbauen." Trockener Nachsatz: "Leider lachen die meisten Leute darüber nur." Sie selbst ist in jedem Fall ein gutes Beispiel dafür, wie es klappen könnte – auch gegen Ende der Karriere: Bis zum Alter von 75 lehrte sie am MIT, acht weitere Jahre lang hielt sie ihr Seminar für Dissertierende ab. Und im Herbst wird dann ihr nächstes Buch erscheinen, in dem es darum geht, wie auch der Übergang in den Ruhestand möglichst gut gelingt. (Klaus Taschwer, 21.4.2024)