Vergangene Woche hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eine richtungsweisende Entscheidung getroffen, die wohl in vielen Staaten Auswirkungen zeigen wird. Der Verein der KlimaSeniorinnen, bestehend aus 2.500 Frauen, die jüngste im Alter von 64 Jahren, hat den EGMR zu einem revolutionären Urteil bewogen: Wirksamer Schutz vor schwerwiegenden nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels (auf Leben, Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität) ist nunmehr einklagbar. Kurzum: Laut EGMR (9. 4. 2024, GK, 53600/20) ist Klimaschutz ein durchsetzbares Menschenrecht. Was folgt nun aus dieser Entscheidung für jeden Einzelnen von uns?

Die EMRK und die Rolle des EGMR

Der EGMR ist ein internationales und damit überstaatliches Gericht mit Sitz in Straßburg. Ihm obliegt es, die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu prüfen. Die EMRK ist ein internationaler Vertrag, den nur Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnen können. Derzeit haben das 46 Staaten (unter anderem Österreich) getan. Das Gericht kann feststellen, ob die EMRK verletzt wurde oder nicht. Es ist hingegen nicht dazu befugt, nationale Entscheidungen oder nationales Recht aufzuheben oder gar abzuändern, und ist auch nicht für die Vollstreckung seiner eigenen Urteile zuständig. Sobald ein Urteil vom Gericht verkündet wurde, ist das Ministerkomitee des Europarates dafür verantwortlich, die Umsetzung eines Urteils zu überwachen.

Dieses Komitee berät mit dem betroffenen Staat, wie das Urteil umzusetzen ist und wie künftige Konventionsverletzungen zu vermeiden sind. Dazu sind allenfalls Maßnahmen (unter anderem Gesetzesänderungen) von dem betroffenen Staat zu treffen. Stellt das Gericht neben einer Konventionsverletzung überdies fest, dass Beschwerdeführer einen Schaden erlitten haben, kann er eine "gerechte Entschädigung" (Art 41 EMRK) zusprechen. Das ist eine bestimmte Geldsumme, die als Schadensausgleich dient. Auch in diesem Fall stellt das Ministerkomitee sicher, dass die zugesprochene Summe tatsächlich gezahlt wird. Der Weg zum EGMR steht allen Bürgerinnen und Bürgern der Konventionsstaaten offen, er kann jedoch nicht unmittelbar beschritten werden: Vor Anrufung des EGMR ist der innerstaatliche Instanzenzug zu durchlaufen (zum Beispiel bis zum OGH, VfGH oder VwGH).

Das Urteil der KlimaSeniorinnen

Die KlimaSeniorinnen haben – nach erfolglosem Durchlaufen des schweizerischen Instanzenzuges – Beschwerde beim EGMR erhoben. In ihrer sogenannten "Individualbeschwerde" (nach Art. 34 EMRK) haben sie – kurz zusammengefasst – vorgebracht, dass der Klimawandel mit den immer häufigeren und intensiveren Hitzewellen lebensbedrohlich für ältere Personen sei, insbesondere für Frauen. Der Schweiz sei vorzuwerfen, dass sie es verabsäumt habe, Maßnahmen zu treffen, um den Anstieg der Treibhausgasemissionen sowie der globalen Durchschnittstemperatur auf ein Maß zu begrenzen, das mit ihrem Menschenrecht vereinbar sei. Konkret haben sie sich (unter anderem) auf Artikel 8 EMRK, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, berufen. Dieses Menschenrecht ist – wie auch andere – in der EMRK sehr knapp formuliert und lebt in seiner Anwendung daher vor allem von der richterlichen Auslegung und Fortentwicklung (EMRK als "living instrument").

Im jüngsten Urteil rügen die Richterinnen und Richter, dass die Schweiz ihre Klimaschutzziele der Vergangenheit nicht erreicht hat und auch die aktuellen Klimaschutzregelungen unzulänglich seien. Es fehlen beispielsweise konkrete Regeln, um den Ausstoß von Treibhausgasen zu verringern. Mit dem Urteil hat der EGMR daher klargestellt, dass Konventionsstaaten eine Verpflichtung gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern haben, effektive Klimaschutzmaßnahmen zu erlassen und durchzuführen. Denn Klimaschutz ist ein aus dem Artikel 8 EMRK ableitbares Menschenrecht.

Anne Mahrer and Rosmarie Wydler-Walti vom Verein
Anne Mahrer and Rosmarie Wydler-Wälti vom Verein KlimaSeniorinnen.
REUTERS/Christian Hartmann

Ebenso hat der EGMR eine durchaus weitreichende Feststellung in Hinblick auf das (Individual-)Beschwerderecht von Klimaschutzorganisationen getroffen. Ein solches ist ihnen von den Konventionsstaaten im Rahmen ihres gerichtlichen Rechtsschutzes (nach Art. 6 EMRK) als Instrument des effektiven Klimaschutzes einzuräumen. Überdies ist den Non-Profit-Klimaschutzorganisationen auch der Zugang zum EGMR erleichtert worden: Nachdem diese für eine generationenübergreifende Gerechtigkeit eintreten ("necessity of promoting intergenerational burden-sharing" in the context of climate change), weil jetzt stattfindender Klimaschutz vor allem für künftige Generationen von Interesse sei, können diese sich auf Art. 8 EMRK berufen und effektiven Klimaschutz einfordern. Das Urteil stärkt demnach Klimaschutzorganisationen erheblich.

Nicht unerwähnt bleiben soll auch die Rolle Österreichs im Verfahren: Österreich hat eine Stellungnahme abgegeben und die Schweiz unterstützt, betonend, dass die Klimaziele aus internationalen Übereinkommen nicht einklagbar seien und die EMRK kein Recht auf eine gesunde Umwelt umfasse.

Die Auswirkungen des Urteils in Österreich

Dass das Urteil vor allem politische Aussage- und Strahlkraft hat, ist klar: Die Menschenrechte nach der EMRK verpflichten Konventionsstaaten im Rahmen ihrer Schutzpflichten zu effektivem Klimaschutz. Damit sind Gesetzgebung und Regierung am Zug. Wie aber ist dieses Urteil nunmehr auch in Österreich für die Geltendmachung von Rechten durch einzelne Betroffene effektiv anzuwenden?

Nachdem die EMRK in Österreich im Verfassungsrang steht, können sich auch Österreicherinnen und Österreicher auf Konventionsrechte berufen: Dies gilt nicht nur vor dem EGMR, sondern auch vor den nationalen Gerichten, insbesondere vor dem Verfassungsgerichtshof (VfGH). Bei der Ausgestaltung des Rechtswegs sind zwei Ansätze zu unterscheiden: Werden (bloß) fehlende Klimaschutzmaßnahmen eingeklagt, oder wird (auch) Schadenersatz in Form einer Geldzahlung begehrt?

Einforderung fehlender Klimaschutzmaßnahmen

Sofern Klimaschutzmaßnahmen als solche das Ziel sind, so sollte nunmehr (auch) österreichischen Klimaschutzorganisationen ein gerichtliches Beschwerderecht nach der rezenten EGMR-Entscheidung in Österreich zukommen. Ein solches gibt es aktuell jedenfalls nicht. Im derzeitigen System kann der VfGH nur als "negativer Gesetzgeber" auftreten und Rechtsvorschriften (teilweise) aufheben. Denkbar wäre aber, die Kompetenzen des VfGH zu erweitern und diesem – ähnlich dem EGMR – in einem sehr engen Rahmen eine subsidiäre reine Feststellungskompetenz betreffend Verletzungen von generationenübergreifenden Grundrechten (wie Klimaschutz oder, künftig anzudenken, zum Beispiel Ausbau erneuerbarer Energien) zuzuschreiben. Das bedeutet, wenn es kein Gesetz gibt, das als grundrechtswidrig angefochten werden kann, sollte der VfGH dennoch oder gerade deshalb feststellen können, dass eine solche Grundrechtsverletzung vorliegt. Diese Feststellung müsste – um effektiv zu sein – mit einer fristgebundenen Handlungspflicht der Republik einhergehen. Um diese neue VfGH-Feststellungskompetenz und den VfGH vor einer Beschwerdeflut zu schützen, müssten strenge Zulässigkeitsvoraussetzungen determiniert werden.

Einforderung von Schadenersatz

Erachtet sich aber eine Person durch fehlende Klimaschutzregelungen (immateriell) geschädigt und begehrt entsprechende Schadenersatzzahlung, so kann sie diesen Anspruch gegen den Bund vor dem VfGH unter bestimmten Voraussetzungen geltend machen und sich dabei auf die Verletzung ihres Menschenrechtes berufen (Art´. 137 B-VG). Ebenso überlegenswert wäre eine Klage vor Zivilgerichten aufgrund eines Amtshaftungsanspruches (nach AHG). So wäre es denkbar, dass eine (fehlende) Verordnung (nicht dagegen fehlende Gesetzgebung!) mit effektiven Klimaschutzmaßnahmen der Klimaschutzministerin (Stichwort: Nationaler Energie- und Klimaplan) zu einem Schadenersatzanspruch Einzelner führt. Dies setzt jedoch voraus, dass die fehlenden Maßnahmen auch gerade dem Schutz des Einzelnen und damit der Verhinderung des eingetretenen Schadens dienen sollten. Sollte innerstaatlich keine Schadenersatzzahlung zugesprochen werden (können), so ist dies wie eingangs skizziert jedenfalls vor dem EGMR möglich. Stellt dieser eine Konventionsverletzung fest, kann er einzelnen Geschädigten auch eine Geldsumme als Schadensausgleich zusprechen.

Fazit

Das Urteil stellt jedenfalls ein Unikum dar, das dem Klimaschutz und der damit einhergehenden zivilgesellschaftlichen Klimaschutzbewegung neue Bedeutung zuspricht. Welche Klimaschutzmaßnahmen nunmehr folgen und welche Klagen eingebracht werden, bleibt gespannt abzuwarten. Dem Klimaschutz ist jedenfalls ein neues Rechtsempfinden zugesprochen worden. (Eva Erlacher, Andreas Lopatka-Sint, 17.4.2024)