Wenn es einen Satz gibt, der den Nahostkonflikt seit Jahrzehnten befeuert, dann ist es "Sie verstehen nur die Sprache der Gewalt". Mit "sie" ist der jeweilige Feind gemeint: Aus Sicht vieler Israelis sind das radikale Palästinensergruppen wie die Hamas oder Staaten wie Syrien und der Iran. Aber auch in der arabisch-islamischen Welt sind viele überzeugt, dass Israel nur Zugeständnisse macht, wenn es mit blutigem Terror konfrontiert wird.

Das israelische Kriegskabinett mit Premier Benjamin Netanjahu
Das israelische Kriegskabinett mit Premier Benjamin Netanjahu steht vor schwierigen Entscheidungen.
AFP/Israeli Prime Minister Offic

Das dürfte auch die Hamas zum Massaker am 7. Oktober 2023 motiviert haben. In dieser Logik ist Zurückhaltung ein Zeichen der Schwäche, die der Gegner unbarmherzig ausnützt. Die israelische Regierung und die Mehrheit ihrer Bevölkerung sahen das ähnlich: Würde jetzt nicht mit großer Härte zurückgeschlagen, würde Israel den Nimbus der Unbesiegbarkeit verlieren, der die Existenz des jüdischen Staates absichert.

Auch im nun aufgeflammten Konflikt zwischen Israel und dem Iran ist der Drang, auf jeden Gewaltakt mit einer Machtdemonstration zu reagieren, Treibstoff für die Eskalation. Der israelische Angriff auf das iranische Botschaftsgebäude in Damaskus dürfte vor allem für die iranischen Revolutionsgarden, die dort wichtige Führungsleute verloren haben, ein Schritt zu weit gewesen sein. Nur mit einer massiven Antwort konnte die eigene Glaubwürdigkeit bewahrt werden, auch gegenüber Verbündeten und der eigenen Bevölkerung.

Angriff abgewehrt

Dass Israel hunderte iranische Raketen und Drohnen mit Unterstützung der USA, Großbritanniens und arabischer Nachbarn fast komplett abwehren konnte, war wohl nicht im Sinne der Angreifer. Nun steht das Land vor der schwierigen Frage, ob es nach diesem Erfolg den Konflikt eindämmen soll oder doch wieder Stärke zeigen muss, um zukünftige iranische Provokationen abzuschrecken.

Die Biden-Regierung, die Europäer und wichtige Stimmen in Israel raten zur Zurückhaltung, die ultrarechten Parteien im Kabinett sehen das offenbar anders. Und so eindeutig ist die Sachlage nicht: Es gab in der Geschichte immer wieder Situationen, in denen Gewaltherrscher durch eine zaghafte Antwort auf ihre erste Aggression zu weiteren Taten ermutigt wurden.

Wäre Adolf Hitler früher auf wirkungsvollen Widerstand gestoßen, wäre es vielleicht nie zum Zweiten Weltkrieg gekommen. Auch Wladimir Putin dürfte die Zurückhaltung im Westen nach der Besetzung von Krim und Donbass 2014 in seinen weiteren Angriffsplänen bestärkt haben. Ganz anders war die Dynamik vor dem Ersten Weltkrieg: Die Angst auf allen Seiten, schwach zu erscheinen, führte in die europäische Urkatastrophe.

Ist es 1938 oder 1914?

Ist es heute im Nahen Osten 1938 oder 1914? Ist Irans oberster geistlicher Führer Ayatollah Khamenei "nicht anders als Adolf Hitler" und hätte längst gestoppt werden müssen, wie Israels Uno-Botschafter Gilad Erdan am Sonntag erklärte? Oder ist die wahre Gefahr, dass eine unkontrollierte Eskalation in einen großen regionalen Krieg mündet, den keine Seite will?

Aus strategischer Sicht spricht derzeit wenig für eine massive Vergeltung. Der Iran hat sich mit seinem direkten Angriff verkalkuliert, Israel kann durch Mäßigung politisch nur gewinnen. Aber das wäre auch nach dem 7. Oktober gegenüber der Hamas klüger gewesen. Der menschlich verständliche Drang zurückzuschlagen, wenn man brutal angegriffen wird, ist oft stärker. (Eric Frey, 16.4.2024)