Junge Frau mit dunkelbraunen Haaren hat fünf Medikamentengläschen für Hormoninjektionen vor sich stehen.
Menschen wie Stacy Cay, die eine Geschlechtsangleichung durchführen lassen, nehmen auf unterschiedliche Arten Hormone ein.
AP/Charlie Riedel

In Großbritannien ist die medizinische Versorgung in vielen Bereichen an den Kapazitätsgrenzen. Das gilt auch für Menschen, die trans sind, also sich nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht identifizieren. In der gesamten Bevölkerung dürften sie etwa 0,7 Prozent ausmachen. Viele von ihnen müssen mehrere Jahre auf einen Behandlungstermin warten und stehen in dieser Zeit unter hohem psychischem Druck.

Das stellte die Tavistock-Klinik in London, die jahrzehntelang das einzige Spital zur Behandlung von Transgender-Kindern und -Jugendlichen war, vor immense Herausforderungen. Der Arzt und Whistleblower David Bell berichtete über Missstände und eine Art Massenabfertigung von Patientinnen und Patienten im vierstelligen Bereich. Ende März wurde das Gesundheitszentrum geschlossen. Etwa 5.000 junge Menschen stehen derzeit auf der Warteliste für Termine an den beiden neuen Kliniken.

Nun erschien ein Bericht über die Behandlung von minderjährigen Transpersonen, den das britische Gesundheitssystem NHS in Auftrag gegeben hatte. Autorin ist die pensionierte Kinderärztin Hilary Cass, einst Präsidentin des Verbands Royal College of Paediatrics and Child Health. Zu ihren Empfehlungen zählt "äußerste Vorsicht" bei Hormontherapien. Das NHS England will nach Prüfung des Berichts auf dieser Grundlage einen Umsetzungsplan erstellen. Dazu äußerte sich auch der britische Premierminister Rishi Sunak im Radiosender LBC: "Wir kennen die langfristigen Auswirkungen einfach nicht", sagte er über medikamentöse Behandlungen und forderte seinerseits zu "extremer Vorsicht" auf.

Der Bericht ist "eine Reaktion auf die spezifisch britische Situation", sagt Martin Fuchs. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Tiroler Landeskrankenhaus Hall bei Innsbruck, wo er eine der größten österreichischen Ambulanzen für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsdysphorie aufgebaut hat. Bald werden neue Leitlinien für den deutschsprachigen Raum veröffentlicht, an denen Fuchs mitgearbeitet hat.

Österreich und Großbritannien

In Österreich und dem deutschsprachigen Raum allgemein sind die Bedingungen anders, unter denen Jugendliche, die trans sind, Geschlechtshormone bekommen (sofern sie das wollen): Sie benötigen Empfehlungen von drei Fachleuten aus ärztlichen und psychotherapeutischen Bereichen. Anders war das an der Tavistock-Klinik in London, wo teils nur eine Fachkraft eine Patientin oder einen Patienten betreute. Nicht immer wurde die Lebenssituation der Betroffenen genau untersucht, um die bestmögliche Behandlungsstrategie herauszufinden. Dann wurden Hormone und Pubertätsblocker vorschnell verschrieben.

"Daher hat das britische Gesundheitssystem zu Recht gesagt: Da müssen wir eine Bremse ziehen und das System ändern", sagt Fuchs im STANDARD-Gespräch. Das bedeutet nicht die Abschaffung aller Genderkliniken, sondern mehrere Zentren mit Qualitätskriterien für die Behandlung und mehr Ressourcen. "Natürlich kann es nicht die beste Lösung sein, diese jungen Menschen in hochkomplexen Lebenssituationen quasi durchzuwinken und möglichst schnell auf Hormone oder Blocker einzustellen."

Wenn Jugendliche ab 16 Jahren Östrogene oder Testosteron bekommen, um mit dem Geschlecht zu leben, mit dem sie sich identifizieren, brauche es "eine klare klinische Begründung", betont Kinderärztin Cass in ihrem Bericht – also ähnlich, wie es in Österreich geregelt ist. Jeder Fall sei individuell und ganzheitlich abzuklären.

Zuletzt wurde in Großbritannien die Ausgabe von Pubertätsblockern eingeschränkt, was nur mehr im Rahmen von Studien passieren kann, unter wissenschaftlicher Beobachtung. Manche Medien hätten fälschlicherweise von einem Verbot von Pubertätsblockern gesprochen, kritisiert Fuchs. Auch habe sich nicht herausgestellt, dass Behandlungen mit Blockern "alle ganz furchtbar waren – das steht so nicht im Bericht", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Von einem Verbot von Hormontherapien unter 16 Jahren sei ebenfalls nicht die Rede, sondern von besonderer Vorsicht, die gefragt sei. Verkürzte Aussagen würden Betroffene und ihre Familien verunsichern, die befürchten, mit ihrer Therapie den falschen Weg eingeschlagen zu haben.

Wichtig sei in jedem Fall die psychosoziale Abklärung der Gesamtsituation. Das führt zu einem Abwägen zwischen dem Leidensdruck der Betroffenen und dem bestehenden Restrisiko, eine Fehlentscheidung zu treffen. "Aus österreichischer Perspektive hatten wir den Luxus, dass wir niedrigere Fallzahlen und ein insgesamt besser ausgestattetes Gesundheitssystem haben, sodass wir das schon immer so ähnlich betrieben haben", sagt Fuchs.

Fälle von Detransition

Die Abwägung sei freilich keine einfache. Es gibt Fälle von sogenannten Detransitionern, die ihre Behandlung (Transition von Frau zu Mann oder von Mann zu Frau) rückgängig machen. Sie dürften bis zu zwei Prozent der Behandelten ausmachen. Über dieses Risiko muss vorab gesprochen werden.

Laut Cass stellt sich auch die Frage, ob das britische Gesundheitssystem einen eigenen Service für Menschen brauche, die eine Detransition wollen. "Es wird wahrscheinlich immer Menschen geben, bei denen man sich für die Behandlung entschieden hat, weil es zu diesem Zeitpunkt viele gute Gründe gab, aber sich Jahre später die Geschlechtsidentität ändert", sagt Fuchs. "Wir wissen, dass sich die Persönlichkeit des Menschen in der Lebensspanne immer wieder ändert – die Situation ist dynamisch, eine Fehlerquote von null Prozent werden wir nicht erreichen."

Wie Studien über die Gründe für Detransitionen zeigen, sind sie in manchen Fällen auch dem Umstand geschuldet, dass ihr Umfeld die Entscheidung nicht akzeptiert und sich diese Art von Leidensdruck als höher herausstellt als das Bedürfnis, mit dem Geschlecht zu leben, mit dem man sich eher identifiziert.

Einfluss der Eltern

Cass plädiert unter anderem für ein ausführliches Forschungsprogramm, das die Daten aller jungen Menschen in Behandlung der NHS-Gender-Gesundheitszentren sammeln und auswerten soll – auch weil die Evidenzlage in vielen Bereichen schwach sei. Mehr Forschung wünschen sich Menschen jedweder Seite in der Diskussion. Allerdings ergänzt Fuchs, dass eine Reihe von Studien Hinweise darauf liefert, dass leitliniengerecht behandelte Menschen später im Erwachsenenalter ein positives Ergebnis zeigen und sich in Aspekten wie Lebensqualität nicht von der Normalbevölkerung unterscheiden. "Deswegen macht man die Behandlung."

Im Bericht wird zudem Zurückhaltung der Eltern empfohlen: Wenn sich vor allem junge Kinder etwa neue Pronomen geben, sollen die Eltern "den geschlechtlichen Ausdruck ihrer Kinder nicht unbewusst beeinflussen", sagt Cass. Dies kann in Einzelfällen relevant sein, und Kinder wie Jugendliche sollten ein solches Vertrauensverhältnis zu ihren Eltern haben, dass sie jederzeit Bedenken rund um eine Transition äußern können. Laut Fuchs sind die meisten Eltern aber verunsichert und irritiert, wenn ihr Kind sich nicht mit dem Geburtsgeschlecht identifiziert. Oft begeben sie sich auf die Suche nach Erklärungsmöglichkeiten. Entsprechend sei es problematisch, wenn "die unwahrscheinlicheren Fälle ins mediale Schlaglicht gerückt werden".

Erhitzte Debatten

Dem britischen Report zufolge hätten Ärztinnen und Ärzte aufgrund der aufgeheizten Debatten Angst, ihre Meinung zu äußern. Einschüchterungen, die aufhören müssen, wie Cass betont. Gegen Denkverbote, aber für eine tatsachenbasierte Diskussion spricht sich auch Fuchs aus. "Ich kann in unserer Spezialambulanz ausschließen, dass wir von Lobbys oder Personen eingeschüchtert wurden."

Die Diskussion über die Behandlungen von jungen Transgenderpersonen wird oft eingebettet in andere von starken Meinungen geprägte Debatten, von biologischen und sozialen Geschlechtern bis hin zum Gendern in der Sprache. "Sie ist eine Schablone, auf der man größere gesellschaftspolitische und soziologische Dinge diskutiert", sagt Fuchs. Das sei schwierig, weil einige betroffene Menschen an der großen Aufmerksamkeit für das Thema nicht interessiert seien. Oft geht es dabei um Standpunkte von Personen, die weder persönlich betroffen sind noch sich in der fachlichen Praxis damit auseinandersetzen.

Dem Arzt David Bell zufolge legt der Bericht seiner Kollegin nahe, "dass Generationen von Kindern und jungen Menschen ernsthaft geschädigt wurden". Diese Aussage hält Fuchs für problematisch: "Wenn man das Ganze umdreht und für Hormonbehandlungen generell eine Altersgrenze ab 18 Jahren einzieht, könnte man Generationen von jungen Menschen nachhaltig schädigen, die jahrelang mit ihrer Geschlechtsdysphorie klarkommen mussten und keinen Zugang zu einer Versorgung hatten, von der man weiß, dass sie wirksam sein kann." (Julia Sica, 12.4.2024)